I. Willi Neurath wird am 22.08.1911 als Sohn eines Buchdruckers in Erfurt geboren. In den 20ern tritt er der KPD bei. Zeitlebens macht sich Willi Neurath aber seine eigenen Gedanken und lässt sich so nie direkt parteipolitischen Ideen zuordnen.
Nach Abschluss einer Lehre zum Buchbinder findet er zunächst keine Anstellung und wendet sich verstärkt der Politik zu. Seine Hauptaufgabe besteht nun darin, weitere Mitglieder für die Partei zu gewinnen. Dafür bildet er sich weiter, indem er die Parteischule der KPD in Laichingen bei Solingen besucht.
Auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 setzt er sich trotz der vielen Verhaftungen von Parteimitgliedern weiterhin aktiv für seine politischen Überzeugungen ein und wird 1935 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in den Anstalten Siegburg, Esterwegen und Vechta ableistet.
Nach Entlassung aus der Haft wird Neurath schon drei Jahre später erneut aufgegriffen und zunächst in das Untersuchungsgefängnis Köln-Klingelpütz verbracht. Hier quält ihn u.a. die ständige Ungewissheit über sein weiteres Schicksal. Der Gedanke einer möglichen Inhaftierung begleitet ihn die gesamte Zeit über, wobei er mit diesem allein gelassen wird. Seine einzige Hoffnung sind die Briefe und Besuche seiner Frau und seiner Familie. Auf die wartet er aber vergebens:
„Ich kann euch in diesem Brief auch noch keine näheren Mitteilungen machen, denn ich warte selbst mit heißem Herzen auf einen Entscheid der höheren Behörde. In der Hoffnung, dass euch dieser Brief recht bald erreichen wird, sei er euch ein erstes Lebenszeichen von mir. Nehmt es nicht für übel, wenn ich heute nur wenige Zeilen schreibe, aber das ist durch die Umstände hier bedingt, später werde ich wohl mehr schreiben können, wenn ich das Unglück haben und nicht zu euch zurückkehren kann.“ [Brief an seine Frau Eva und seine Eltern; die Zitate wurden leicht bearbeitet]
Aus diesen Ausschnitten eines von ihm geschriebenen Briefes an seine Frau und Eltern wird auch klar, dass auch die Familie sich stets in Ungewissheit über den Zustand ihres Mannes oder Sohnes befand.
II. Während seiner Haftzeit in Vechta freundet sich Willi mit einem Mithäftling an, der ihn darum bittet, nach Ende der Haftstrafe seiner Frau in Köln eine Botschaft zu überbringen. So kehrt Neurath nach seiner Entlassung nach Köln zurück, um der Bitte nachzukommen.
Dort lernt er auch die Stieftochter des Kameraden, Eva, kennen und sie verlieben sich ineinander. Anschließend heirateten die beiden am 24. Oktober 1942.
Dann jedoch wird er 1943 wieder verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. Während dieser Zeit halten die Eheleute Briefkontakt; Willi schreibt ihr jeden Sonntag. Um sie zu schützen und um ihr keine Sorgen zu bereiten, erwähnt er in seinen Briefen nichts von den menschenunwürdigen Verhältnissen im Lager:
„Du brauchst dir um mich auf alle Fälle keine Sorgen zu machen, mir geht es nach wie vor gut, ich bin gesund und wohlauf, abgesehen von einer kleinen, aber wichtigen Kleinigkeit – eben dir, meiner Mutsch – fehlt mir nichts.“ […]
„Oft und oft, Mutsch, bin ich bei dir und begleite dich durch dein schweres Leben. Schön wäre es, wenn dir gelänge, noch einmal nach Memel versetzt zu werden, dann würdest du doch nicht so ganz alleine unter fremden Menschen sein. Hoffentlich gelingt es dir.“
Anders als noch in der Untersuchungshaft sind Besuche von Angehörigen in den Konzentrationslagern grundsätzlich nicht gestattet. Und dennoch kundschaften Eva und ihre Mutter die Bewachung aus, indem sie sich als Spaziergängerinnen ausgeben. Dabei stellen sie fest, dass einer der Wachen Litauisch spricht, die Muttersprache von Eva.
Mutig wagen sie das Außergewöhnliche: Eva spricht den Wächter auf Litauisch an und sagt ihm, dass sie in das Lager wolle, um ihren Ehemann zu sprechen — und das mit Erfolg: Sie kann Willi tatsächlich für einige Minuten sehen.
Im Sommer 1944 wird Neurath dann in das KZ Neuengamme verlegt. Ab diesem Zeitpunkt verliert Eva den Kontakt zu ihm und weiß nicht mehr, wo er gefangen gehalten wird. Von dort wird er schließlich Ende April mit seinen Mithäftlingen auf die Cap Arcona verbracht. Eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit seiner Frau oder gar ein Wiedersehen scheint somit ausgeschlossen. Doch auch Eva, die in der Zwischenzeit als Marinehelferin eingesetzt ist, wird im Zuge der Auflösung der deutschen Marine in den letzten Kriegstagen nach Neustadt beordert und in der U-Boot-Schule einquartiert. Als am 3.Mai 1945 die Royal Air Force die Schiffe bombardiert, kann sie natürlich nicht wissen, dass sich ihr Mann auf der „Cap Arcona“ befindet, wird jedoch von einer großen Unruhe getrieben.
Die große Katastrophe, die sich im Laufe des Tages auf der Ostsee vor Neustadt abspielt, erleben die beiden schließlich aus unterschiedlichen Perspektiven. In einem Brief, den Willi 1947 an die Witwe eines beim Angriff umgekommenen Mithäftlings und Kameraden schreibt, berichtet er von den schrecklichen Ereignissen:
„Lange waren wir nicht auf dem Schiff und dann ereilte uns unser Unglück. Am 3. Mai 1945 wurden unsere Schiffe mittags um 14.45 Uhr von englischen Bombenflugzeugen angegriffen. Und das war der Tod von 7500 Häftlingen. Hilflos waren wir dem Feuer– oder Wassertode ausgeliefert. Tausende sprangen ins Wasser und ertranken und Tausende kamen in den Flammen um. Es war furchtbar, so furchtbar, dass es kaum mit Worten zu erzählen ist.“
Willi überlebt, weil er sich in dem großen Chaos, das auf der brennenden Cap Arcona herrscht, auf das Vorschiff retten kann. Dort wird er am Ende des Tages von britischen Soldaten gerettet und verbringt die Nacht zum 4. Mai am Strand von Neustadt.
Am nächsten Morgen geht Eva zum Strand, wieso, weiß sie auch nicht. Dort kommt ihr ein Mann entgegen, verdreckt, verrußt, verwundet – völlig unkenntlich. Sie will ihn passieren, doch der vermeintlich Fremde geht direkt auf sie zu und spricht sie mit ihrem Kosenamen an. Es ist Willi. Vor Schreck fällt sie in Ohnmacht.
III. Nach 1945 bleiben Willi und Eva Neurath noch ein paar Jahre in Neustadt. Er arbeitet als Angestellter bei der Stadtverwaltung und kümmert sich mit einigen Kameraden um die Bergung der Opfer der Katastrophe und die Anlage des Cap Arcona Mahnmals. Später engagiert er sich im Kieler Innenministerium für die politischen Wiedergutmachungsfälle. Damit hat er seine ehemaligen Haftkameraden auch nachträglich unterstützen können.
IV. Nachdem wir uns nun zwei Tage mit den Briefen und Berichten von und über Willi Neurath beschäftigt haben, ist uns klar geworden, was für ein besonderer Mensch er gewesen sein muss. Wir haben uns gefragt, was das Schicksal dieses Menschen uns heute bedeuten kann. Hier ist unsere Antwort:
Wir bewundern Willi Neurath für seine Stärke und seine Hartnäckigkeit, seine Tapferkeit, sein Pflichtbewusstsein und sein Mitgefühl. Wir finden es bemerkenswert, dass er sich trotz der so verhängnisvollen und tragischen Erlebnisse nicht in seinem Wirken beeinflussen lassen hat und dass er anderen weiterhin half.
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-